[...] Es ist ein besonderer Glücksfall der Überlieferung, dass von Schaffrath eigene Auszierungen und Kadenzen für die Mittelsätze vieler seiner Cembalokonzerte erhalten geblieben sind. Denn dies gestattet auf unmittelbare und authentische Weise Einblick in eine für die damaligen Musiker und Zuhörer ganz selbstverständliche Praxis: die Kunst der willkürlichen, d. h. improvisatorischen Veränderungen oder Manieren. Der Komponist konnte sich damit begnügen, einen gleichsam skeletthaften Notentext niederzuschreiben, den, um im Bild zu bleiben, auf kunst- und geschmackvolle Weise mit Leben zu erfüllen vornehmliche Aufgabe des Solisten war. Johann Joachim Quantz12 und Carl Philipp Emanuel Bach haben zwei Arten der Manieren unterschieden: die Manier im französischen Geschmack, „welche man theils durch gewisse angenommene Kennzeichen, theils durch wenige kleine Nötgen anzudeuten pflegt“, und die Manier im italienischen Geschmack, „welche keine Zeichen haben und aus vielen kurzen Noten bestehen.“ Nach Quantz und Bach sind vor allem langsame Sätze für Manieren geeignet, ja, erfordern diese geradezu; bei schnellen Sätzen solle dagegen sparsam von ihnen Gebrauch gemacht werden. Denn: „Schöne singende Gedanken…, deren man nicht leicht überflüssig werden kann, ingleichen brillante Passagien, welche an sich selbst eine hinreichende gefällige Melodie haben, darf man nicht verändern: sondern nur solche Gedanken, die eben keinen großen Eindruck machen.“ Da die Manieren im französischen Geschmack vom Komponisten genau vorgeschrieben sind und der Interpret sie nur auszuführen braucht, die Manieren im italienischen Geschmack aber auf immer neue Weise selbst erfinden muss, stellt die letztgenannte Manier viel höhere Anforderungen an den Instrumentalisten und Sänger, so dass, wie Quantz schreibt, „ein wahre Musiker“ darin „den Kennern seine Wissenschaft zeigen“ kann. Schaffrath genoss als Meister eben dieser „Wissenschaft“ einen so guten Ruf in Berlin, dass der Gesangsstar Felice Salimbeni (ca. 1712–1751) sich ab etwa 1743 in dieser Kunst von ihm unterweisen ließ. Vielleicht spielt Quantz auf dieses Schülerverhältnis an, wenn er schreibt: „Zur italiänischen [Art] hingegen wird die Wissenschaft der Harmonie unumgänglich erfodert: oder man müßte, wie die meisten Sänger nach der Mode, beständig einen Meister zur Hand haben, von dem man die Veränderungen über ein jedes Adagio erlernete; wodurch man aber niemals selbst ein Meister werden, sondern zeitlebens ein Scholar verbleiben würde.“
Das hier erstmals veröffentliche G-Dur-Konzert stellt ein typisches Beispiel für die in den frühen 1740er Jahre komponierten Berliner Cembalokonzerte dar, die der Öffentlichkeit bislang vor allem in ihrer Ausprägung durch Carl Philipp Emanuel Bach bekannt sind. In seiner ausgezierten Fassung bietet es dem heutigen Cembalisten ein seltenes Beispiel für eine authentische „Veränderung“, die er übernehmen oder die ihm als Vorbild für eigene Interpretationen dienen kann. Besondere Beachtung sei auf die kontrapunktischen Passagen in diesem Konzert gelenkt, die es als zur Gattung der „contrapunktischen Concerte“ gehörig erscheinen lassen. Nicht nur gestaltet Schaffrath mit der für ihn kennzeichnenden kontrapunktischen Verarbeitung von Ritornell-Motiven den Mittelteil der schnellen Sätze, die Ritornelle selbst sind passagenweise kontrapunktisch gearbeitet. Gleichwohl gelingt es ihm, seiner Musik eine italienisch anmutende Lieblichkeit zu verleihen.
Reinhard Oestreich (Auszug aus dem Vorwort der Edition)