Johann Gottlieb Graun, 1701 oder 1702 im seinerzeit sächsischen Wahrenbrück geboren, besuchte gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Carl Heinrich Graun (1703/04–1759) die Kreuzschule in Dresden. Im Unterschied zu diesem, der ein begabter Sänger war und später in seinen Anstellungen in Braunschweig und Berlin ein berühmter Opernkomponist wurde, schlug Johann Gottlieb Graun – offenbar zielgerichtet – die Laufbahn eines Violinvirtuosen und Konzertmeisters ein. Das Rüstzeug dafür vermittelte ihm Johann Georg Pisendel (1687–1755), der Konzertmeister der sächsischen Hofkapelle. Zwischen 1721 und 1723 studierte Graun auch für einige Monate bei Giuseppe Tartini (1692–1770) in Padua. Ab 1726 war er als Konzertdirektor am Hof des Herzogs Moritz Wilhelm in Merseburg tätig. Da er sowohl als Komponist als auch wegen des ihm eigenen affektvollen Vortragsstils weithin geschätzt wurde, schickte Johann Sebastian Bach (1685-1750) seinen ältesten Sohn Wilhelm Friedemann 1726 bis 1727 zu ihm in die Lehre. 1731 wechselte Graun nach Arolsen an den Hof Carl August Friedrichs Fürst zu Waldeck. Bereits ein Jahr später wurde er Mitglied der Kapelle des preußischen Kronprinzen Friedrich in Ruppin. Möglicherweise war er dem Thronfolger schon 1728 begegnet, als Graun zusammen mit Pietro Locatelli am Berliner Hof musiziert hatte.
Die Kapelle des Kronprinzen vergrößerte sich im Lauf der Jahre: 1733 wurde Franz Benda (1709–1786) angestellt (er nahm Unterricht bei Graun), ein Jahr später kamen Johann Benda (1713–1752) und Christoph Schaffrath (1709–1763) hinzu und 1735 auch Carl Heinrich Graun. Als Friedrich 1736 das Schloss in Rheinsberg bezog, gehörten 17 Musiker zu seinem Hofstaat. Nach seinem Regierungsantritt 1740 wurde die Kapelle auf mehr als 40 Instrumentalisten aufgestockt und Johann Gottlieb Graun als Konzertmeister zu ihrem Leiter ernannt. Zu Grauns Dienstpflichten gehörte die Sorge für den Orchesternachwuchs und die Leitung der Hofkonzerte bei der Mutter des Königs, der verwitweten Königin Sophia Dorothea, sowie bei der regierenden Königin Elisabeth Christine, gelegentlich auch bei einem der Brüder des Königs. Das legendäre Abendkonzert des Königs hingegen fiel in die Zuständigkeit von Johann Joachim Quantz. Nach dem Siebenjährigen Krieg zog sich Graun aus gesundheitlichen Gründen aus dem aktiven Dienst zurück. Hoch angesehen starb er am 7. Oktober 1771 in Berlin.
Das umfangreiche kompositorische Schaffen Johann Gottlieb Grauns besteht (im Unterschied zu demjenigen seines jüngeren Bruders) ganz überwiegend aus Instrumentalwerken. Es verwundert kaum, dass sich darunter neben vielen Sinfonien, Trios und Bläserkonzerten eine große Zahl von Konzerten und Solosonaten für die Violine befindet. Die idiomatische und teilweise recht virtuose Schreibart dieser Werke legt die Annahme nahe, dass er sie vornehmlich für sich selbst komponiert hat. Bereits die sechs in Merseburg 1726/27 gestochenen Sonaten können als eine Art Visitenkarte des ehrgeizigen Konzertdirektors betrachtet werden. Neben den gedruckten Soli liegen weitere 55 Kompositionen in Abschriften vor. Acht davon sind nur durch Katalogeinträge bekannt; die Aufzeichnungen selbst sind verschollen. Zwei weitere Werke sind als Incerta zu betrachten, da sie zusätzlich unter dem Autorennamen (Franz?) „Benda“ überliefert sind. Auch bei der Mehrheit der übrigen 45 abschriftlich überlieferten Soli kann die Zuschreibung an Johann Gottlieb Graun nicht als völlig gesichert gelten, denn teilweise stammen die Handschriften von Kopisten, die in keiner engeren Beziehung zum Komponisten gestanden haben. Häufig wird als Autor nur „Graun“ angegeben. Letzteres betrifft auch einen Großteil der in Dresden über Johann Georg Pisendel vermittelten Kompositionen. Dennoch darf angenommen werden, dass die Violinsoli mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausschließlich aus der Feder des Konzertmeisters Graun stammen.
Ebenso diffizil wie die Frage der Autorschaft ist die nach der Datierung der Soli. Anhaltspunkte für die Entstehungszeit der Dresdner Abschriften liefern die Schreiber- und Papieruntersuchungen Manfred Fechners. Ihnen zufolge können von den hier vorgelegten Sonaten – vorausgesetzt, die Abschriften entstanden in zeitlicher Nähe zu ihrer Niederschrift – die Werke in D-Dur (GraunWV A:XVII:2), Es-Dur (C:XVII:64), G-Dur (C:XVII:70, C:XVII:69) und g-Moll (C:XVII:71) auf die Zeit um 1730 datiert werden. Das bedeutet, dass sie in Merseburg, vielleicht auch in Arolsen komponiert wurden. Die Soli in d-Moll (C:XVII:61) und Es-Dur (C:XVII:65) dagegen dürften später entstanden sein. Die Dresdner Kopien sind nach 1735 und vor etwa 1750 entstanden. Wahrscheinlich handelt es sich dabei also um „preußische“ Werke Grauns. Einzig nicht näher datierbar ist die Sonate in a-Moll (C:XVII:73).
Anders als bei den gedruckten Sonaten ist der stilistische Bezug der acht Soli zur Tradition der Sonata da chiesa nur schwach ausgeprägt. Lediglich zwei Kompositionen bestehen aus je zwei Paaren kontrastierender Sätze in der Abfolge langsam – schnell (A:XVII:2 und C:XVII:64). Die übrigen Werke sind dreisätzig (langsam – schnell – schnell). Sie entsprechen weitgehend der von Johann Adolf Scheibe (1708–1776) angegebenen modernen Charakteristik der Gattung – mit Ausnahme von dessen Beschreibung der Finalsätze als menuettartig bzw. „Menuet mit Variationen“. Ersteres trifft nur auf die Hälfte der sechs Werke zu (C: XVII: 61, C:XVII:71 und C:XVII:70). Ansonsten liegen hier geradtaktige Schlußsätze vor (C:XVII:65 und C: XVII:69), darunter ein Allegro scherzando (C:XVII:73). Im Ganzen fällt die Vielfalt der Charaktere auch bei den übrigen Sätzen auf. Dabei ist die Neigung Grauns unverkennbar, anstelle der traditionellen langsamen Tempi bewegtere Zeitmaße zu wählen. Dem entspricht die Tendenz zu kleingliedriger, fließender Oberstimmenmelodik. Dies trifft ganz mit Scheibes Kennzeichnung der langsamen Sätze durch ihre „reine und bündige Melodie“, welche „zugleich leicht und fließend“ sei, zusammen – wobei Scheibe hier die Geschicklichkeit des Spielers in der Verzierung herausgefordert sah. Bedeutsam bleibt in Grauns Kompositionen der Generalbass, welcher für harmonische Vielfalt und motivischen Zusammenhang, vor allem durch Imitationen, sorgt. Die Vereinigung von Virtuosität und Kantabilität, expressiver Melodik und Kontrapunkt in den Violinsoli Johann Gottlieb Grauns veranlasste Scheibe am Ende seiner Ausführungen zu der Empfehlung, sie „zu Mustern [zu] erwählen, und sich [zu] bemühen, ihnen nachzuahmen.“
(Vorwort zur Partitur von Christoph Henzel)