Giovanni Alberto Ristoris Divoti Affetti alla Passione di Nostro Signore waren, wie sich aus der Fortsetzung der Titelformulierung in den erhaltenen Stimmbüchern ergibt, „per uso della Reale Cappella di Dresda nel Giorni de’Venerdì e Domeniche della Quadragesima“ bestimmt. Damit hatten sie im Repertoire der Dresdner Hofkirche ihren Platz nach den Fastenpredigten, die in der Fastenzeit am Freitagnachmittag im Rahmen der Miserere-Andacht und am Sonntagnachmittag im Anschluß an die Vesper gehalten wurden. Die Miserere-Andachten sind durch die Notizen des Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae am sächsischen Hof seit 1710 nachweisbar; sie fanden seit 1730 in der Fastenzeit täglich von Montag bis Freitag statt, und ihr Ablauf blieb über fast zwei Jahrhunderte konstant. Zu Beginn wurde vor ausgesetztem Sanctissimum der Psalm Miserere figuraliter musiziert; daran schloß sich freitags die Predigt an, während der das Sanctissimum durch eine Sakramentsfahne verdeckt war. Es folgten ein weiterer, in den frühesten Notizen nicht näher bezeichneter Gesang, Versikel und Oration des Priesters, der Hymnus Pange lingua und der sakramentale Segen sowie am Ende das Lied O Lamm Gottes unschuldig. Einen ähnlichen Ritus gab es an den Sonntagen der Fastenzeit im Anschluß an die Vesper. Nach der 1733 erfolgten Reduzierung des Hofkirchenensembles fiel die Ausführung des figuraliter musizierten Miserere sowie der übrigen Gesänge in den Aufgabenbereich der Hofkapelle. Die Ausgestaltung dieser Andachten mit Musik blieb in der Dresdner Hofkirche bis weit in das 19. Jahrhundert hinein unverändert.
Von allen Teilen der Miserere-Andachten war der direkt nach der Fastenpredigt erklingende Gesang am längsten ohne eine klar umrissene Form geblieben. In den Anfangsjahren der Dresdner Hofkirchenmusik dürfte es sich um kaum mehr als ein einfaches Lied gehandelt haben. Die Aufführung eines Stabat mater nach der Predigt am Fest der Sieben Schmerzen Mariä (Freitag vor Palmsonntag) findet im Diarium Missionis erstmals 1735 Erwähnung, und erst drei Jahre später ist an gleicher Stelle für den 23. Februar 1738, der in diesem Jahr auf einen Sonntag fiel, von einem „cantus 2 virtuosorum cum theorba“ nach der Predigt die Rede. Da das Diarium Missionis keine vollständige Chronik der Kirchenmusik bietet, aber liturgische und musikalische Neuerungen in der Regel registriert, bezeichnet diese Notiz mit hoher Wahrscheinlichkeit die Einführung von generalbaßbegleiteten Duetten an dieser Stelle. Mit Sicherheit sind dabei Ristoris Duette gemeint, weil von den anderen leitenden Musikern am sächsischen Hof aus dieser Zeit keine Werke in dieser Besetzung und für diese Bestimmung nachweisbar sind.
Giovanni Alberto Ristori wurde 1692 in Bologna geboren und kam nach einigen Opernerfolgen in Venedig und anderen oberitalienischen Städten im Dezember 1715 mit der Komödiantentruppe seines Vaters Tommaso Ristori an den sächsisch-polnischen Hof nach Dresden. Neben seinen Aufgaben als Komponist italienischer Opern und Intermezzi war er gemeinsam mit Johann David Heinichen und Jan Dismas Zelenka seit den 1720er Jahren für die Musik zu den katholischen Hofgottesdiensten verantwortlich. In den Jahren 1731/32 hielt sich Ristori mit der Truppe seines Vaters auf Einladung der Zarin Anna in Moskau und Sankt Petersburg auf. Nach seiner Rückkehr und dem Tod Augusts des Starken wurde er anscheinend entlassen, doch erhielt er im Oktober 1733 eine erneute Anstellung als Hoforganist. Da der neue Hofkapellmeister Johann Adolf Hasse oft abwesend war und Zelenka wegen Krankheit seinen Dienst nur noch in begrenztem Maße ausüben konnte, dürfte die Hauptlast in der Leitung des Kirchendienstes etwa ab 1740 auf Ristoris Schultern gelegen haben. Eine offizielle Ernennung zum Kirchen-Compositeur folgte aber erst 1746 (gemeinsam mit Johann Michael Breunich). Vier Jahre später wurde er Vizekapellmeister und starb am 7. Februar 1753 in Dresden. Die Königin Maria Josepha sorgte für den Ankauf des umfangreichen Nachlasses, der nach dem Siebenjährigen Krieg katalogisiert und in den Schränken der Hofkirche deponiert wurde. 1908 wurden Ristoris Werke zusammen mit der übrigen nicht mehr gebrauchten Kirchenmusik in die Königliche Öffentliche Bibliothek überführt. Während die meisten Opern Ristoris bis heute erhalten sind, kehrten fast alle Manuskripte mit seiner Kirchenmusik nach 1945 von der kriegsbedingten Auslagerung nicht zurück.
Die vier Stimmbücher (Canto, Alto, Tiorba, Organo) mit den Divoti Affetti alla Passione di Nostro Signore blieben auch nach 1908 in der Katholischen Hofkirche und wurden erst 1972 in den Bestand der Sächsischen Landesbibliothek überführt. Der goldverzierte Ledereinband läßt darauf schließen, daß diese Stimmbücher zunächst eher für den privaten Gebrauch des Herrscherhauses bestimmt gewesen waren. Laut Auskunft des Catalogo <Thematico> della Musica di Chiesa <catholica in Dresda> composta Da diversi Autori secondo l’Alfabetto <1765> wurden in der Hofkirche sowohl Partituren als auch Stimmen dieser Duette aufbewahrt; daneben ist von „L’istessi Duetti in 3. libri legati“ die Rede. Das Incipit von Amor ah! amor meus weicht jedoch von der in den vier erhaltenen Stimmbüchern überlieferten Version ab. Nimmt man die aus dem Diarium Missionis überlieferte Notiz vom 23. Februar 1738 als das Datum der Einführung solcher Duette in der Dresdner Hofkirche, so enthalten die vier Stimmbücher eine geschlossene Sammlung, deren überwiegender Teil wahrscheinlich in den 1740er Jahren entstand. Die zumindest teilweise Identität dieser Manuskripte mit den im Catalogo von 1765 genannten „3 libri legati“ steht dagegen nicht endgültig fest.
An erster Stelle der offenen Fragen im Zusammenhang mit dieser Sammlung steht zunächst die nach der Herkunft der Texte. Nur bei O vinea electa ist eine kurze Anlehnung an einen liturgischen Text – hier ein Responsorium aus der ersten Nokturn des Karfreitags – zu erkennen. Die sprachlichen Bilder gehören aber in jedem Fall zum festen Arsenal der aszetischen Theologie in der Barockzeit. Als Autoren kommen die Hofpoeten Stefano Benedetto Pallavicini und Giovanni Claudio Pasquini, aber auch die an der Dresdner Hofkirche wirkenden Jesuiten in Frage. Die Frage nach den wahrscheinlichen kompositorischen Vorbildern läßt sich dagegen relativ leicht beantworten. Sowohl Ristori als auch Zelenka hatten zum eigenen Musizieren und zu Studienzwecken Kammerduette von Agostino Steffani abgeschrieben, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreitet waren und als Klassiker dieser Gattung galten. Bei den Aufführungen von Ristoris Duetten legen die günstigen akustischen Verhältnisse in der nicht allzu großen alten katholischen Hofkirche und die zitierte Notiz aus dem Diarium Missionis zunächst eine Besetzung des Basso continuo ausschließlich mit einer Theorbe nahe. Eine solche Praxis stieß jedoch unter den gänzlich anderen Bedingungen in der 1751 eingeweihten neuen Hofkirche an ihre Grenzen, weil in dem wesentlich größeren Raum eine einzelne Laute als Generalbaßinstrument nicht mehr genügte. Wahrscheinlich blieben die Divoti Affetti trotzdem noch länger in Gebrauch, denn mit Ausnahme eines nicht erhaltenen Cantus a Soprano, Contralto ed Organo pro Quadragesima post Concionem post Meridiem die Veneris et Die Dominica aptatus aus dem Jahre 1753 von Johann Georg Schürer sind Neukompositionen der von Ristori verwendeten Texte erst seit den 1770er Jahren nachweisbar. In diesen jetzt „Versetto“ genannten Stücken treten zu den hohen Singstimmen und der Orgel weitere Instrumente der tiefen und mittleren Lage wie Fagotte, Violoncelli oder auch Violen. Bis zum Tod von Johann Adolf Faustinus Weiß (1741-1814), der am Dresdner Hof nach dem Siebenjährigen Krieg die Stelle seines Vaters Sylvius Leopold Weiß als Lautenist einnahm, war auch die Mitwirkung der Laute vorgesehen. Mit Ausnahme zweier Autographe von Johann Gottlieb Naumann und der Partiturabschrift eines Versetto von Franz Seydelmann – alle ausdrücklich mit „dopo la Predica“ überschrieben – sind von diesen Stücken jedoch nur Reste der Stimmensätze erhalten. Aus ihnen läßt sich aber erkennen, daß diese Versetti bis weit ins 19. Jahrhundert hinein im Gebrauch waren. Das Ende dieser Tradition läßt sich dagegen nicht exakt ermitteln; es steht jedoch sicher im Zusammenhang mit der Reduzierung des Kirchendienstes der Hofkapelle im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
(Vorwort zur Partitur von Gerhard Poppe)