Anders als Hasse, Zelenka und andere war Baldassare Galuppi (1706–1785) nie am Dresdner Hof angestellt gewesen. Geboren als Sohn eines Barbiers auf der Insel Burano bei Venedig, komponierte er bereits im Alter von 16 Jahren seine erste Oper „La fede nell’incostanza ossia Gli amici rivali“, die 1722 in Vicenza und Chioggia zur Aufführung kam. Nach ihrem offensichtlichen Misserfolg wurde er Schüler von Antonio Lotti (1667–1740) und ging schließlich 1726 als Cembalist an das Teatro della Pergola nach Florenz. Ab 1728 begann seine erfolgreiche Laufbahn als Opernkomponist an verschiedenen venezianischen Theatern, die ihn unter anderem von 1741 bis 1743 nach London und später von 1765 bis 1768 als Kapellmeister an den Hof der russischen Zarin Katharina II. führte. Von besonderer Bedeutung war die 1749 mit L’Arcadia in Brenta begonnene Zusammenarbeit mit dem fast gleichaltrigen Carlo Goldoni (1707–1793): Innerhalb von sechs Jahren entstanden in Venedig ein Dutzend opere buffe, die in den beiden folgenden Jahrzehnten ihren Platz auf zahlreichen europäischen Bühnen fanden. Daneben war Galuppi von 1740 bis 1751 maestro di coro am Ospedale dei Mendicanti sowie von 1762 bis 1776 (mit einer Unterbrechung von 1765 bis 1768) maestro di coro am Ospedale degl’Incurabili in Venedig und hatte in diesen Ämtern Kirchenmusik für diese berühmten Mädchenkonservatorien zu komponieren. 1748 wurde er außerdem zum vicemaestro di cappella an die venezianische Hauptkirche San Marco berufen, stieg dort 1762 zum maestro di cappella auf und behielt dieses Amt bis zu seinem Tod. Während die Bedeutung von Baldassare Galuppi für die Geschichte der Oper in der Musikwissenschaft nie gänzlich in Vergessenheit geriet, findet seine Kirchenmusik erst in neuerer Zeit größere Aufmerksamkeit.
Aus dem Bestand der Katholischen Hofkirche werden in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden heute noch 58 Partitur- und Stimmenabschriften mit Galuppi zugeschriebenen Kirchenmusikwerken aufbewahrt, von denen 54 bereits in dem Catalogo <thematico> della Musica di Chiesa <catholica in Dresda> composta Da diversi Autori secondo l’Alfabetto <1765> verzeichnet sind. Dabei handelt es sich überwiegend um Manuskripte aus der Copisteria Baldan in Venedig, die zu einem bisher unbekannten Zeitpunkt, spätestens jedoch 1764, vom Dresdner Hof erworben wurden. Von zahlreichen dieser Werke sind heute nicht mehr vorhandene Stimmensätze über ältere und neuere Dresdner Kataloge nachweisbar, die die Verwendung dieser Musik im Repertoire der Hofkirche dokumentieren. Dazu zählt auch das hier vorgelegte Miserere Es-Dur, dessen Partitur aus zwei Teilen besteht, die mit den jeweils dazugehörigen Stimmen wiederum getrennt, aber direkt nacheinander im Catalogo […] <1765> verzeichnet sind. Besetzung und musikalische Faktur, aber auch der mit dem Catalogo […] <1765> gegebene terminus ante quem der Komposition legen die Annahme nahe, dass dieses Miserere – wie auch andere in Dresden überlieferte Kirchenmusikwerke Galuppis – ursprünglich für das Ospedale dei Mendicanti bestimmt war und seine Entstehung in die Zeit von 1740 bis 1751 zu datieren ist.
(aus dem Vorwort zur Partitur von Gerhard Poppe)