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ortus studien
om197 / Band 16
Raffaele Mellace
Johann Adolf Hasse
Aus dem Italienischen übersetzt von Juliane Riepe

Erscheint im Dezember 2015.

om197
ISBN 978-3-937788-40-1
458 Seiten, frz. Broschur, mit zahlreichen Abbildungen (teils farbig) und Notenbsp.
inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten 35,00 EUR

Die Musikgeschichte ist gewiß nicht arm an Beispielen dafür, daß ein Komponist, von den Zeitgenossen hochgeschätzt, nach seinem Tod fast gänzlich in Vergessenheit gerät. Nur selten aber ist dieses Mißverhältnis so kraß wie im Falle von Johann Adolf Hasse (Bergedorf 1699 – Venedig 1783), um die Mitte des 18. Jahrhunderts unumstrittener Meister der internationalen Opernszene, mehr als sechs Jahrzehnte lang auf jedem Gebiet seiner Kunst aktiv und heute zu einem nichtssagenden Eintrag in Fachlexika geworden, losgelöst von der klanglichen Erfahrung, die zu ihm gehört, denn von der Opernbühne und von den Konzertplakaten ist Hasse praktisch verschwunden. Ein Vergessen, das nicht leicht zu erklären ist: Anders als Bach hat Hasse nicht im eng umgrenzten Kreis einer lokalen Institution gewirkt, die es seiner Begabung erschwert hätte, an eine größere Öffentlichkeit zu dringen. Im Gegenteil – Hasse genoß seit 1730 europaweit ein Prestige, das über zwei Generationen hinweg ungebrochen blieb. Sein ganzes Leben lang bemühte er sich erfolgreich darum, ein Netz von Beziehungen zu den berühmtesten europäischen Höfen zu knüpfen (Dresden, Wien, Neapel, Berlin, Bayreuth, München, Paris), indem er sich die dynastischen Verbindungen zunutze machte und das ungeteilte Wohlwollen einiger der wichtigsten Protagonisten der Geschichte des 18. Jahrhunderts errang (Maria Theresia von Österreich und Friedrich II. von Preußen, untereinander erbitterte Feinde). Zugleich bewahrte sich Hasse einen dauerhaften Kontakt zum Kreis der kommerziell betriebenen italienischen Opernhäuser und zu einer der bedeutendsten Institutionen auf dem Gebiet der Kirchenmusik, dem venezianischen Ospedale degli Incurabili. Als der englische Musikforscher Charles Burney den Komponisten ein Jahr nach dem Ende seiner Opernkarriere 1772 in Wien besuchte, konnte er die Beschreibung dieser Begegnung kaum mit treffenderen Worten einleiten:

Das Verdienst des Herrn Hasse ist schon so lange und so allgemein unter den Kennern der Musik bestimmt, daß ich noch mit keinem einzigen Tonkünstler über die Sache gesprochen habe, der nicht zugegeben, daß er von allen itzlebenden Komponisten, der natürlichste, eleganteste und einsichtsvollste sey und dabey am meisten geschrieben habe.

Nichtsdestoweniger kam sogar auf den Brettern seines eigenen Theaters, der Dresdner Hofoper, in den dreiundfünfzig Jahren vom Abschied Hasses bis zum Beginn der Tätigkeit Carl Maria von Webers unter 301 Werken keine einzige Hasse-Oper zur Aufführung. Auch das Schicksal Vivaldis, einer anderen Berühmtheit, die lange in den Abstellkammern der Geschichte vergessen blieb, läßt sich nicht als Parallelfall betrachten, weil der Venezianer immerhin durch einen umfangreichen und nachhaltigen Prozeß der Wiederentdeckung und kritischen Neubewertung entschädigt wurde – mit der Folge, daß sein Name und sein Werk seit der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts auch einem größeren Publikum präsent sind.
    Selbst im Jahrhundert der zahllosen Wiederentdeckungen kam es nicht zur Renaissance eines wahrhaft großen Komponisten, wie Hasse es war. Einer der Gründe dafür liegt in der gängigen Deutung des musikhistorischen Zeitabschnitts, dessen Protagonist der „Sassone“ war. Die Musikgeschichtsschreibung, deren Ansatz sich in vieler Hinsicht der deutschen Geistesgeschichte des späten 19. Jahrhunderts verdankt, hat den Zeitabschnitt zwischen dem sogenannten Barock und der Wiener Klassik – zwischen Bach und Händel auf der einen, Haydn, Mozart und Beethoven auf der anderen Seite – als den Übergang von einer illustren, nunmehr überwundenen Vergangenheit zu einer glänzenden, noch nicht erreichten Zukunft gedeutet. Eine solche teleologische Sichtweise führt zwangsläufig dazu, dass alles, was in dieser Zwischenepoche entstand (nicht mehr barock und noch nicht klassisch), in den Geruch der Unvollkommenheit gerät. Diese Abwertung schlägt sich nicht zuletzt in der unsicheren Terminologie nieder, mit der versucht wird zu beschreiben, was hier geschieht: „Rokoko“, „galanter“, „vorklassischer“ oder „empfindsamer Stil“. Andererseits besteht inzwischen Einigkeit darüber, daß sich in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts ein neuer Stil entwickelte, mit dem eine grundlegende Umgestaltung der kompositorischen Sprache verbunden war. Zentrale Elemente dieses neuen Stils sind die Vorherrschaft der Homophonie über den Kontrapunkt, eine gleichmäßige Gestaltung der Phrasen, ein natürlicherer Fluß der Melodie, eine gewisse Neigung zu symmetrischen Perioden und der verlangsamte harmonische Rhythmus. Diese Chiffre prägt die Kompositionen, die im Zeitraum von etwa 1720 bis 1780 in Europa entstanden – sechzig Jahre, die sich schwerlich als bloße Übergangszeit, als brüchige Nahtstelle zwischen zwei klar definierten Epochen deuten lassen.
    Wir haben es vielmehr mit einer durchaus eigenständigen Periode der Musikgeschichte zu tun, die die Gründe für ihre problematische Rezeption in sich selbst trägt. Die romantische Ästhetik der absoluten Musik hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Instrumentalmusik zum Ideal erhoben und befunden. Sehr viel besser als alle Worte sei die irrationale Sprache der Töne in der Lage, das Unsagbare, Poetische zum Ausdruck zu bringen. Wer so dachte, der mußte einem Zeitalter mit Mißtrauen und Abwehr begegnen, dem der Gesang das wichtigstes Ausdrucksmittel war, das die Opera seria als vornehmste Gattung und die Komposition von Kirchenmusik (vokaler Kirchenmusik, versteht sich) als normale Beschäftigung eines Kapellmeisters betrachtete und das im divismo der Virtuosen, ob es nun Kastraten waren oder nicht, über ein komplettes vormodernes Starsystem verfügte. Das nachrevolutionäre Europa, das allerorten einen überwältigenden Triumph des Bürgertums und seiner „großartigen und fortschrittlichen Errungenschaften“ erlebte, konnte unmöglich eine Epoche als ‚politisch korrekt‘ gelten lassen, in der das Musikleben wesentlich an die Höfe gebunden war, in der Kompositionsaufträge entweder vom Adel oder von der Kirche stammten und Fest, Huldigung oder Kultus die wichtigsten Anlässe des Musizierens waren. Die einzigen beiden Sprachen, die Hasse sein Leben lang in Musik gesetzt hat – Italienisch und Latein – verwiesen außerhalb Italiens inzwischen auf die sozialen Praktiken zweier Stände (des ersten und des zweiten), die ihre Verfügungsgewalt über die musikalische Produktion seit dem Ende des 18. Jahrhunderts schrittweise an das Bürgertum abgetreten hatten. Davon abgesehen, konnte das nationalistische 19. Jahrhundert schwerlich die kosmopolitischen Ideale mehrerer Generationen von Künstlern teilen, die im Europa ihrer Zeit pausenlos unterwegs waren und deren Orientierung am ‚italienischen‘ Stil Landesgrenzen und eine unterschiedliche nationale Herkunft schlichtweg bedeutungslos werden ließ (umso mehr, als der Begriff ‚Italien‘ damals weit davon entfernt war, etwas politisch Konkretes zu meinen) – ein Stil zudem, der hartnäckig an einer Sprache festhielt, die noch der großen Tradition Petrarcas entstammte und darüber hinaus als perfektes musikalisches Medium galt. So entstand ein zugleich weitgespanntes und engmaschiges Netz, das von Lissabon bis Petersburg reichte und nur Frankreich eine gewisse Autonomie zugestand. Als Charles de Brosses Hasse 1739 in Venedig begegnete, bekam er auf die Frage, ob Hasse je Werke französischer Kollegen wie Lully oder Rameau gehört habe, die Antwort:

‚Ich? nein,‘ erwiderte er, ‚Gott behüte mich, andere Musik zu sehen und zu hören als italienische, nur die italienische Sprache ist sanghaft, und es kann keine andere Musik geben als italienische‘.

Und de Brosses erzählt mit spürbarem novellistischen Vergnügen den Fortgang der Unterhaltung:

‚Sie wissen nicht einmal, daß wir für Kirchenmusik Lalande haben, der in dieser Gattung alle eure Komponisten übertrifft.‘ Daraufhin aber erlebte ich, daß der Mann vor Zorn auf Lalande und seine Gönner beinahe erstickt wäre, seine Stimme ging schon ins Chromatische, und wenn nicht seine Frau Faustina zwischen uns getreten wäre, so hätte er mich mit einem Sechzehntel harpuniert und mit Kreuzen niedergeschlagen.

Es ist dieses historische Gefüge, das uns – ob wir es wollen oder nicht – geprägt hat, sei es als Hörer oder als Konzertveranstalter. Der Einfluß jener Metaphysik der ‚reinen‘, absoluten Musik wirkt bis heute nach. Selbst die goldene Zeit der Wiener Klassik wird nach wie vor als Triumph der Instrumentalmusik begriffen – mit der Folge, daß der wesentliche Anteil, den eine quantitativ und qualitativ wahrlich beeindruckende Produktion von Vokalmusik daran hatte, im Schatten bleibt. Letztlich kann also die damnatio memoriae kaum überraschen, die seit seinem Tod (und zeitgleich mit dem Aufstieg der romantischen Musikästhetik) einen Komponisten traf, der so vollkommen in der Zivilisation der Mitte des 18. Jahrhunderts aufging wie Hasse, in seiner Biographie und seinem kompositorischen Schaffen geradezu ein Spiegelbild seiner Epoche und eben darum gleichermaßen dazu prädestiniert, von den Zeitgenossen gefeiert wie von späteren Generationen nicht mehr verstanden zu werden. Ein Unverständnis, zu dem zweifellos auch jene verbreitete Geringschätzung der ästhetischen Kategorie der Grazie beitrug, die schon Stendhal 1814 zu Beginn seiner Vie de Métastase beklagt hatte.

Aus der Einleitung (Raffaele Mellace)

Rezension:
Peter Sühring, info-netz-musik







 

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