Singspiele aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelten heute oft undifferenziert als künstlerisch belanglose Gelegenheitswerke. »Allersorgfältigste Ueberlegung«, wie sie Johann Friedrich Reichardt in ihnen verwirklicht sah, vermutet man heute dagegen nicht – Wolfgang Amadeus Mozarts und Johann Wolfgang von Goethes Genrebeiträge einmal ausgenommen. Demgegenüber steht der damalige Aufstieg von Singspielen zum wichtigsten Repertoirebestandteil umherziehender Wanderbühnen, erster kommerzieller Theater und sogar einiger Hoftheater sowie eine schichtübergreifende Rezeption und theoretische Reflexion der Werke bei den Zeitgenossen. Zweifel an der heutigen Pauschalklassifizierung sind also mehr als angebracht.
In seiner Studie nimmt Adrian Kuhl daher dezidiert die künstlerische Faktur nord- und mitteldeutscher Libretti und Vertonungen in den Blick. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Erwartungshaltung an musiktheatrale Gestaltung und der jeweiligen Entstehungskontexte liegt der Fokus auf ausführlichen Untersuchungen von Singspielen heute bekannter wie unbekannter Komponisten und Dichter – beispielsweise Georg Anton Benda, Johann Adam Hiller, Christian Gottlob Neefe, Ernst Wilhelm Wolf, Christoph Friedrich Bretzner und Christian Felix Weiße. Dabei entsteht ein gänzlich anderes Bild des in Wissenschaft und Praxis fast vergessenen Repertoires deutschsprachiger Opernpraxis: Differenzierte Figurengestaltung, planvoll motivierter Gesang und genau kalkulierte Handlungsvertonung widerlegen die tradierte Meinung vom ästhetisch anspruchslosen Singspiel.