Durch die jüngste Erschließung des Archivs der Sing-Akademie zu Berlin nach der glücklichen Rückkehr aus der kriegsbedingten Verlagerung in Kiew wurde deutlich, welchen unschätzbaren Wert die älteren Quellenhandschriften für die Erforschung der Kirchenmusik in Berlin haben. Längst sind nicht alle Fragen beantwortet oder gestellt. Zu den dem Umfang nach unauffälligsten Quellen gehören zehn kleine Blätter, die eine reizvolle Komposition für ein Vokal- und Instrumentalensemble von Johann Theile (1646–1724) überliefern. Durch die kirchenjahreszeitliche Einordnung zum Weihnachtsfest von der Hand des Nikolaikantors (als Substitut des Vaters seit 1726) Jacob Ditmar d. J. (1702–1781) ist sie mit der Kirchenmusik an der alten Hauptkirche Berlins verbunden.
Doch auch der Komponist, Johann Theile, ist eine Figur der Berliner Musikgeschichte. Der 1646 in Naumburg als Sohn eines Schneiders geborene Theile erhielt seine gymnasiale Schul- und damit verbundene Kantoreiausbildung in Magdeburg. Von Leipzig aus, wo Theile Jura studierte, konnte er noch beim greisen Heinrich Schütz in dessen Weißenfelser Refugium Unterricht erhalten. Nach Stationen in Stettin und Lübeck berief ihn 1673 Herzog Christian Albrecht von Schleswig-Holstein als Kapellmeister nach Gottorf. Noch in Lübeck erschien während des Umzuges seine Komposition der Matthäuspassion im Druck. Seit Anfang 1675 lebte Theile ohne feste Anstellung in Hamburg und kam hier mit dem Opernbetrieb im Remter des Domes und vor allem mit dem neuen Opernunternehmen am Gänsemarkt in Berührung. 1685 trat Theile die Nachfolge Johann Rosenmüllers als Hofkapellmeister bei Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel an. Damit war er auch für die Kirchenmusik in der großen Wolfenbütteler Schlosskirche zuständig. Danach blieb Theile trotz Kapellreduktionen dem 1691 angetretenen Amt als Vizekapellmeister beim Herzog von Sachsen-Weißenfels offenbar wenigstens nominell bis zu seinem Tod verbunden, da er einen entsprechenden Titel noch nach dem Tod Christians II. 1694 führte und mindestens bis 1720 eine Jahrespension bezog.
Die Jahre der Merseburger Administraturregierungen für minderjährige Prinzen zwangen Theile sicher zur Suche nach anderen Wirkungsmöglichkeiten. Eine Orientierung nach Berlin mag ihm aussichtsreich erschienen sein, da die erste Königin in Preußen, die außerordentlich gebildete Sophie Charlotte, aus dem ihm schon vertrauten Braunschweig-Lüneburger Herzogshaus kam. Durch die „die Gottseel. Königinn von Preussen“ wurde Theile „Ao. 1701. reichlich beschenkt“. Eine frühere Verbindung mit Berlin ist nicht bekannt. Sie habe ihm nach Aussage des Nekrologs, „die Capellmeister-Charge in Berlin“ versprochen – eine Zusage, die durch den Tod der Königin am 2. Februar 1705 hinfällig wurde. In der undatierten Dedikation der Andächtigen Kirchen-Music an König Friedrich I. gibt Theile an, „über 2. Jahre Ew: Königl: Mayest: Hautbois, wie auch andere Liebhaber der Music in Composition unterrichtet“ zu haben.
Zum Werk
Die Herkunft des Textes ist unbekannt. Alle sechs Strophen folgen demselben Reimschema (ababcc). Die Sionitin, die Tochter Zion, die Bewohnerin Zions kann als Personifizierung Jerusalems aufgefasst werden, dem Ort der kommenden Offenbarung des Gottes Israels. Die messianische Verheißung vom Kommen des Friedenskönigs aus Sacharja 9, mit der im Neuen Testament Jesu Einzug in Jerusalem gedeutet wird (Mk 10,1-9 par.), wird hier auf die Weihnachtsgeschichte bezogen und führt sogar zur Verschmelzung der „Sionitin“ mit der Mutter Jesu. In den vier Binnenstrophen, dem eigentlichen Wiegenlied, wird das angesprochene Jesuskind nacheinander in Anlehnung an Verse aus Offenbarung 21 mit edlen Pflanzen, Schmucksteinen und Getränken verglichen. Hinter der äußeren Form eines scheinbar harmlosen Wiegenliedes wird daher durch die Verschränkung der zugrundeliegenden Bibelstellen auf eine durchaus traditionelle Zusammenschau von passionszeitlichem Einzug Jesu in Jerusalem und adventlich-weihnachtlichem Kommen Jesu, von Advent/Ankunft und Kirchenjahresende/Wiederkunft angespielt. Obwohl der Text in der Ich-Form gehalten ist, entschied sich der Komponist für einen vierstimmigen Vokalsatz. Die vier Binnenstrophen mit der wiederholten Aufforderung „schlaf“ enthalten allerdings in sublimierter Form ein Solo, da der Canto nicht an der Deklamation des Textes beteiligt wird, sondern mit dem üblicherweise eine Textwiederholung markierenden „ÿ“ versehen ist, das in dem gegebenen Kontext wohl die Wahl von Vokalen offen lassen soll.
Die Form aus instrumentaler Symphonia und rahmenden vokalen Ensemblesätzen um ein chorisches Strophenlied, jedoch ohne vokalen Solo-Abschnitt, lässt sich kaum in die Schemata von geistlichem Konzert, Motette oder Concerto-Aria-Kantate einordnen. Für eine Strophenaria fehlt das regelmäßig wiederkehrende Ritornell. Stattdessen wird vorgeschlagen, den im 17. Jahrhundert noch nicht auf das solistische Gesangsstück mit Instrumentalbegleitung eingeengten Begriff „aria“ anzuwenden, mit dem Theile auch die vielfältigen Formmodelle seiner Arien und Canzonetten zu fassen suchte. Mit „aria“ wird letztlich nur das schon im Begriff „Wiegenlied“ angesprochene, als Gattungsterminus in der Zeit aber noch ungebräuchliche „Lied“ assoziiert.
(aus dem Vorwort von Ekkehard Krüger)