Dass Händel im Laufe der Geschichte immer wieder politisch vereinnahmt wurde, gehört zweifellos [...] zu den Charakteristika seiner Rezeption. Wohl nie zuvor jedoch wurde die Inanspruchnahme des Komponisten für politische Zwecke so intensiv betrieben und das Händel-Bild so sehr von Ideologien überformt wie in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Die Beschäftigung mit der Händel-Rezeption in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Deutschen Demokratischen Republik verspricht nicht nur Erkennt-nisse über zwei wichtige Epochen der Rezeption des Komponisten; sie würde auch unser Wissen über das Verhältnis von Musik und Politik in diktatorischen Regimen und (allgemeiner gefasst) über die Mechanismen, Möglichkeiten und Grenzen der Instrumentalisierung von Musik zu politischen Zwecken erweitern. Dennoch fehlt für beide Epochen der Händel-Rezeption eine grundlegende Aufarbeitung, die über punktuelle Analysen und Interpretationen hinausgeht und auf breiter Dokumentenbasis übergreifende Zusammenhänge in den Blick nimmt. [...] Der vorliegende Band entstand primär mit der Absicht, künftige Forschungen zur Händel-Rezeption in der NS-Zeit und in der DDR durch die Veröffentlichung einer Auswahl der verfügbaren Quellen zu erleichtern. Das hier vorgestellte Dokumentenmaterial lässt sich jedoch auch als Basis für einen Vergleich mit der Rezeption anderer Komponisten in diesen beiden Regimen nutzen. Es bietet darüber hinaus eine repräsentative Auswahl an Zeugnissen für die verschiedenen Techniken des ideologisch-politischen Umgangs mit Musik im Allgemeinen und mit den ‚großen‘ Komponisten der Vergangenheit (dem musikalischen ‚Erbe‘) im Besonderen und lädt auf diese Weise dazu ein, die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen der politischen Instrumentalisierung von Musik in zwei unterschiedlichen, durch den Diktatur-Begriff miteinander verbunde-nen Staatsformen zu reflektieren. [...] Aufgenommen wurden Quellen sehr unterschiedlicher Art, sowohl Archivalien als auch zeitgenössische Druckschriften [...]. Die Spanne reicht von persönlichen Briefen über Akten von Händel-Institutionen, Monographien zu Leben und Werk des Komponisten, wissenschaftlichen Aufsätzen, Aufführungsberichten und Rezensionen bis zu Regierungserlassen und parteiinternen Dokumenten. Der weitaus größte Teil dieser Quellen ist bisher nicht in Neuedition greifbar, die meisten waren bislang im Kontext der Forschung zur Händel-Rezeption nicht bekannt.
(Auszug aus dem Vorwort)