Weitgehend unbekannt ist bislang der in Mulhouse im Elsass am 15. März 1739 geborene Flötist Jean Gaspard Weiss. Und doch erschließt sich Dank mehrerer in Mulhouse erhaltener Portraits, seinen in den Jahren zwischen 1772 und 1816 gedruckten Werken sowie durch seine ausführliche, etwa 1785 niedergeschriebene Autobiographie, die im städtischen Archiv von Mulhouse aufbewahrt wird, eine musikalische Persönlichkeit von besonderem Charme.[...] Einen großen Einfluss auf Weiss übte bei einem längeren Aufenthalt in Rom der Freundeskreis der Malerin Angelika Kauffmann (1741 –1807) aus, bei der Weiss sowohl führende Maler wie Sir Nathaniel Dance (1735 –1811), Musiker wie Antonio Sacchini (1730 –1786) und André-Erneste-Modeste Grétry (1741–1813), als auch adlige Musik liebhaber wie Hermann Graf von Callenberg (1744 –1795) kennenlernte. An musikalischen Werken hörte er in Italien – wie er in seinen Memoiren schreibt „mit Verwunderung“ – Opern von Gian Francesco Majo (1732 –1770), Niccolò Piccinni (1728 –1800) sowie Kammermusik von Nicolas Dôthel (1721–1810) und Carlo Antonio Campioni (1720 –1788). Besonders beeindruckten ihn musikalische Aufführungen in der Karwoche in der Peterskirche von Rom, durch die er „so sehr begeistert [wurde], als ein Mensch, der sich in einem göttlichen Traum schon vorstellte, im Himmel zu seÿn.“
Die italienischen Erfahrungen nutzten Weiss später in London, wohin er 1767 von Genf aus übersiedelte. Von den dort wirkenden Musikern Carl Friedrich Abel (1723 –1787) und Johann Christian Bach (1735 –1782) erhielt er den Rat, „dass man in England die Luftsprünge und Gaugeleÿen [d.i. pures Virtuosentum; Anm. d. Hrsg.] in der Musick wenig [achte], und dass ein Meister sich nur könne durch eine reine Harmonie, singende Melodien und empfindsame Ausdrücke, so wohl in der Composition als im Vortrag beliebt machen. In London lebte Weiss ohne feste Anstellung und wirkte als Solist und freies Ensemblemitglied in den verschiedenen Opern- und anderen Orchestern sowie als Lehrer. Er musizierte mit vielen führenden Musikern Europas wie Johann Christian Fischer (1733 –1800), Wilhelm Cramer (1746 –1799), Friedrich Hartmann Graf (1727–1795), Jean Louis Duport (1749 –1819), Antonin Kammel (1730 –1788), Joseph Beer (1744 –1812) und natürlich den oben genannten Carl Friedrich Abel und Johann Christian Bach. [...] Die Grands Préludes & Solos entstanden in dieser späten Wirkungszeit. Weiss schrieb sie für seine Söhne, wie aus der Widmung („composés et dediés à ses fils“) hervorgeht. [...] Die vorliegenden Préludes & Solos geben wertvolle Hinweise auf Weiss’ pädagogische und musikalische Auffassungen (Weiss unterrichtete während seiner gesamten musikalischen Laufbahn). Besonders auffallend an ihnen ist die vielfache Verwendung von langen Notenwerten (z.B. in den Préludes 4 und 8) und die galante Melodieführung. Im Vergleich zu anderen Studienwerken der Zeit fehlen virtuose Passagen fast vollständig und auch Sechzehntelketten dienen immer der ‚singenden Melodie‘. Somit stand Weiss mit diesem im Jahr 1816 gedruckten Werk ganz in der Tradition der 1760er Jahre, in der die barocken Passagen bereits dem galanten Stil gewichen waren, aber die Virtuosität noch nicht im Vordergrund stand und auch entlegene Tonarten selten auftraten.
Aus dem Vorwort von Tobias Bonz