Georg Künstel lebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und hat seinen fränkischen Wirkungskreis – ausgenommen eines Studienaufenthaltes zur Weiterbildung in der Komposition – nie verlassen. Anstellungen als Hoforganist und Hofkapellmeister führten ihn nach Ansbach und Coburg. Sein nur bruchstückhaft überliefertes Lebenswerk besteht ausschließlich aus geistlicher Vokalmusik, dessen wichtigsten Bestandteil seine Coburger Markuspassion darstellt. Diese entstand vermutlich während seiner Zeit als Coburger Hofkapellmeister (1693–1695) und wurde dort auch noch Jahrzehnte nach seinem Tod aufgeführt.
Georg Künstel ist in musikwissenschaftlichen Kreisen kein Unbekannter – zumal wenn es sich um die Geschichte der Passionsvertonung handelt. Seine Markuspassion war bereits Gegenstand musik- und literaturwissenschaftlicher Beschäftigung. Von der Existenz der zwei vermutlich einzigen Partituren wusste niemand, da diese sich in Privatbesitz befanden und zum Zweck einer Edition des Werkes uneigennützig zur Verfügung gestellt wurden. Somit ist Künstels Markuspassion aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt worden und soll mit der Veröffentlichung sowohl der Musikwissenschaft, aber hauptsächlich vielen Musizierenden und musikalisch interessierten Menschen, auch als ein bedeutendes Zeugnis Coburger Musikgeschichte, zugänglich gemacht werden.
Das Werk besteht aus mehreren Teilen, die nicht als zusammenhängendes Ganzes aufgeführt wurden. Eine instrumentale Sonata, als einziger rein instrumentaler Satz, und ein ausgedehnter Chorsatz gefolgt von dem üblichen Initium „Höret an das Leyden…“ eröffnen die Passion. Ein zweiteiliger Chorsatz, der als zweiten Teil eine ausgedehnte Fuge enthält, gefolgt von dem Choral „O Traurigkeit, o Herzeleyd“ beschließen sie. Dazwischen wechseln sich Rezitative mit teilweise mehreren Soliloquenten, Arien, Choräle und Turbaechöre ab. Durch ihren äußeren Gesamtumfang mit insgesamt 99 Nummern, durch den Wechsel von strophischen Arien, Chorälen und Chören und das solide handwerkliche Fundament, auf dem sie steht, ist sie von Bedeutung für diese Gattung und repräsentiert beispielhaft den Typus der oratorischen Passion, der im Werk J. S. Bachs gipfelt.
Gerade im ausgehenden 17. Jahrhundert war die Produktion von Passionsvertonungen enorm, aber leider sind nur wenige Partituren erhalten und entsprechendes Aufführungsmaterial ist rar. Bei der Wiederentdeckung von Künstels Markuspassion handelt es sich also um einen ausgesprochenen Glücksfall.